Katja Nettesheim ist Gründerin und Geschäftsführerin des Technologie-Startups CULCHA, einem digitalen Werkzeugkasten für Führungskräfte sowie der _MEDIATE_Group, einer Beratungsgesellschaft für digitale Transformation. Sie lehrt als Professorin für Digitales Medienmanagement an der Steinbeis Hochschule Berlin.
Starten wir doch gleich mit der Königsdisziplin. Wie würden Sie sich selbst beschreiben?
Das ist als Einstiegsfrage etwas unfair, das müssten Sie ja eigentlich andere fragen (lacht). Meine Freunde würden mich als neugierig, positiv, gesellig und natürlich sehr beschäftigt beschreiben. Wenn Sie meine Familie fragen würden, insbesondere meine Töchter – also von der jüngeren habe ich ein Label an meinem Computer kleben, da steht „Beste Mama der Welt“. Das würde ich jetzt einfach mal so stehen lassen.
Gibt es Parallelen zu Ihrem beruflichen Ich oder sind Sie da ganz anders?
Da würde mir die Energie fehlen, eine gespaltene Persönlichkeit aufrechtzuerhalten. Und ich habe eine Menge Energie. Glücklicherweise ist das bei mir nicht pathologisch (lacht).
Nein, im Ernst: Neugier ist sicher ein Hauptmotiv für meinen Lebenslauf. Ich habe angefangen in einer Großkanzlei, als Rechtsanwältin. Das war der intellektuelle Antrieb, der mich damals zum Steuerrecht gebracht hat. Anschließend bin ich zu Boston Consulting in die Beratung gegangen, weil ich unbedingt die betriebswirtschaftliche Seite mitbekommen wollte. Und bei Axel Springer wollte ich sehen, wie die Dinge, die wir uns in der Beratung ausgedacht haben, tatsächlich umgesetzt werden. Und schließlich wollte ich es selbst machen, selbst ein Unternehmen gründen. Und das habe ich dann auch gemacht.
Sie sind Anwältin, Unternehmensberaterin, Gründerin, Hochschullehrerin, Aufsichtsrätin … Was treibt Sie an?
Mir liegt die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft am Herzen. Unternehmen müssen sich heute konstant neu erfinden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Der hierfür erforderliche Kulturwandel – also das gesamte Unternehmen auf eine sich rapide verändernde Welt auszurichten – hat mich meine gesamte berufliche Laufbahn beschäftigt: zunächst angestellt bei Axel Springer, dann mit meiner Beratungsfirma _MEDIATE.
Klar ist: Kulturwandel gelingt nur, wenn das gesamte Team mitzieht. Wir bei CULCHA helfen hierbei und setzen genau da an, wo klassische Unternehmensberatungen und Change Manager oft nicht weiterkommen: Bei der Umsetzung der Strategie in der Breite. Mit CULCHA verändern wir Kultur mit Technologie! Daran arbeiten wir mit mittlerweile 25 Mitarbeitenden.
Was genau macht CULCHA?
CULCHA ist ein Tool, das es Firmen ermöglicht, ihre Strategie im gesamten Unternehmen umzusetzen. Wie machen wir das? Indem wir den Nutzern unserer App – Führungskräften und ihren Mitarbeitenden – jede Woche ein bestimmtes Thema an die Hand geben, das zur Strategie des Unternehmens passt. Man kann sich das wie einen Personal Trainer im Sport vorstellen, nur dass wir alles in der Technologie vereint haben, damit es auch wirklich alle nutzen können.
Warum braucht es eine App? Ist das Thema Führung zu komplex geworden?
Definitiv! Momentan ist es für alle sehr schwierig, sich sowohl in der Führung als auch im Management anzupassen an das, was da draußen passiert. Es bestehen große Defizite bei der Umsetzung von Strategien. Dazu braucht es Breite und Dauerbeschallung.
Mit der App spielen wir jede Woche ein Thema an alle aus – gleichzeitig, das ist der ausschlaggebende Punkt. Das fängt etwa bei vermeintlich einfachen Dingen an, wie Silos einzureißen. Bei den Führungskräften gehen wir noch einen Schritt weiter und geben Ihnen zum Beispiel zehn Ideen, wie sie durch ihre Führungsarbeit Silos vermeiden oder einreißen können. Dabei ist nichts in unserer App zufällig, alles ist optimiert – basierend auf psychologischen, wissenschaftlich erwiesenen, funktionierenden Mechanismen etwa aus Neurowissenschaft oder Verhaltensökonomie.
Klingt wie die ideale Ergänzung zum klassischen Workshop: Aus dem kommt man hochmotiviert raus und weiß kurz darauf nicht mehr, wie die Theorie praktisch umgesetzt werden soll.
Genauso ist es! Mit CULCHA helfen wir, Führungsverhalten und Zusammenarbeit zu verbessern. Beispielsweise indem wir regelmäßige Denkanstöße in die Organisation geben – neudeutsch „Nudging“. Ein Beispiel: Mein Lieblings-Nudge fängt an mit „Heute schon geärgert?“ Bei diesem Modul, das sich auf reibungslose Zusammenarbeit in stressigen Zeiten konzentriert, geht es darum, auf die Entfernung zu erkennen, – etwa im hybriden oder remoten Arbeitsumfeld – was beim Gegenüber gerade los ist.
Ganz neu haben wir eine Programmierhilfe eingebaut, wie sich jeder gute Zusammenarbeits- und Führungsreflexe aneignen kann. Deshalb arbeiten wir viel mit Checklisten, Spickzetteln, Reflexionsbögen, die man sich immer wieder zur Hand nehmen kann. Bei kontinuierlicher Nutzung entfaltet das eine starke Wirkung auf individueller wie auf organisationaler Ebene: Reflexion, Selbsteinschätzung und selbst gesetzte Ziele führen psychologisch und neurowissenschaftlich erwiesen deutlich stärker zu einer Umsetzung.
D.h., trotz der einheitlichen technologischen Plattform ermöglicht die App jedem Mitarbeitenden individuell mit der jeweiligen Situation im Unternehmen umzugehen?
Exakt! Wir schlagen hier eine Brücke: Ziel ist die Veränderung der Kultur in einer Organisation. Die Leitplanken werden zwar von demjenigen bestimmt, der die Strategie entwickelt hat. Aber dadurch, dass wir viele verschiedene Vorschläge machen, was der Einzelne in dieser Situation konkret tun kann, können wir die individuelle Strategieumsetzung in der Breite viel eher gewährleisten. Nicht zu vergessen: wir nehmen dadurch auch viel Druck aus der Organisation und vom Einzelnen.
Wie gehen Sie selbst mit dem unternehmerischen Druck um?
Mir hilft es, wenn ich ausreichend Schlaf habe. Gelegentlich meditiere ich auch (grinst). Nein, viel wichtiger ist für mich die Erkenntnis, dass ich immer noch viel zu viel selbst mache, dass ich noch zu sehr selbst Zahnrad oder Transmissionsriemen bin. Das versuche ich zu ändern.
Wie hat sich Ihr Führungsverhalten hier verändert?
Ich beginne gerade, meine Arbeit als Dienst an den Kolleginnen, als Serviceleistung an die Mitarbeitenden zu verstehen. Quasi als Chef-Dienstleistung. Das hilft mir, vieles klarer zu sehen.
Was macht nach Ihrer Erfahrung eine gute Führungskraft aus?
Für mich gibt es drei Dinge, die ersten beiden davon hängen zusammen: Erstens, eine gute Führungskraft muss frei sein vom Ego. Das heißt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und sie nicht auf den eigenen Geltungsanspruch zu beziehen. Wenn man das schafft, ist man schon relativ weit beim zweiten Punkt – nämlich sehr klar zu sein. Da bin ich auch noch nicht, wo ich gerne wäre. Aber es hilft, wenn man das Ego raushalten kann. Diese Klarheit muss dann natürlich auch klar kommuniziert werden.
Drittens: Mir helfen Visualisierungen sehr. Ich sehe mich als Ingenieurin, die den Motor am Laufen hält. Unsere Firma hat mittlerweile 25 Mitarbeitende und mein Job ist es, dass der Motor so gut läuft, wie er laufen kann. Dazu muss ich gelegentlich ein Zahnrad austauschen oder ein Teil umbauen, vor allem aber mit dem Ölkännchen herumlaufen, um unnötige Reibung zu vermeiden. Das ist ein Bild, das mir in der täglichen Arbeit sehr hilft. Ich muss bloß aufpassen, dass ich nicht zu sehr wie Lukas der Lokomotivführer werde (lacht).
Was hat diese Entwicklung ausgelöst?
Als ich in der Verlagsgeschäftsführung des Hamburger Abendblatts gearbeitet habe, war ich noch stark in einem System gefangen. Geführt habe ich dadurch, dass ich das weitergegeben habe, was mein Chef mir gesagt hat – vielleicht mit etwas weniger Druck.
In einem so einem stark geprägten System, wie es Axel Springer und andere Konzerne sind, ist es schwierig, ein eigenes Standing zu entwickeln. Da sagt man nicht so einfach: Nee Leute, auch wenn das euer System ist und ihr mich dafür belohnt, ich mache das mit meinen Mitarbeitenden anders. Dass ich ein eigenes Führungsverständnis entwickelt habe, kam bei mir erst nach und nach mit der Unabhängigkeit als Unternehmerin.
Sind Sie mit Ihrem modernen Führungsverständnis eine Ausnahme?
Mancher hat vielleicht weniger den Zwang gehabt, sich zu verändern, weil er immer im gleichen Konzern geblieben ist. Oder war weniger mit neuem Gedankengut konfrontiert. Ich beschäftige mich glücklicherweise von Berufswegen mit Themen wie Führung und Unternehmenskultur. Aber viele sind auch zu sehr mit ihrer eigenen Weltsicht verheiratet. Das für sich zu erkennen und zu ändern, ist auch schwierig neben dem Tagesgeschäft. Der Vertriebsleiter bei einem Schrauben-Hersteller hat andere Sorgen: Der hat Vertriebsziele, der muss Schrauben verkaufen.
Ich bin ja in unserem Start-up in einem ganz anderen Umfeld. Doch auch da hat sich vieles verändert: Während ich früher im Notfall noch alles allein machen konnte, geht das heute nicht mehr. Wenn heute etwas nicht funktioniert, habe ich keine Chance etwas zu tun, außer die Entwickler in Ruhe zu lassen und vielleicht einen Kaffee oder eine Mate hinzustellen – und das mache ich dann auch (schmunzelt).
Das heißt vor allem loslassen zu können.
Stimmt. Ich helfe niemandem dabei seinen Job gut zu machen, wenn ich mich ständig einmische. Aber mit Corona-Krise, Krieg und Energiekrise habe ich da auch ein dickeres Fell entwickelt und eine höhere Toleranzschwelle als vorher.
Das gilt auch für die Fehler-Toleranz: Es ist gut, dass man fehlerfrei sein will. Aber wenn Fehler passieren, geht es darum, wie man mit ihnen umgeht. Wir versuchen Fehler zu benennen – auch in Entwicklungs- und Feedbackgesprächen – und dann positiv zu wenden.
Aber das ist eben ein Unterschied zwischen traditioneller und neuer Führungskultur. Mir wird ganz übel, wenn ich eine Führungskraft sagen höre, wir haben hier eine ganz tolle Fehlerkultur, sie aber ihre Direct Reports darüber führt, dass die sich gegenseitig bei Fehlern verpfeifen.
Wie kann man das in gewachsenen Strukturen verändern?
Die Erkenntnis, dass sich was ändern muss, haben wahrscheinlich die meisten. Sie weigern sich aber, das anzuerkennen. Um hier zu einer Veränderung zu kommen, bedarf es nach meiner Erfahrung einer behutsamen Art und Weise, mit den Führungskräften umzugehen. Die Inhalte unserer App sind so geprägt, dass sie sofort umsetzbar sind. Wir sagen nicht abstrakt, Silos sind schädlich, die muss man einreißen, um beim Beispiel zu bleiben. Sondern wir sagen, was Führungskräfte morgen machen können, um Silos einzureißen.
Was muss die deutsche Wirtschaft tun, um konkurrenzfähig zu bleiben bzw. wieder zu werden?
Wir sehen hier in Deutschland wahnsinnig tolle Assets, Patente und Erfindungen, tolle Unternehmen, tolle Marken, die drohen den Bach runterzugehen, weil sie sich nicht an die Neuzeit angepasst haben. Viele haben sich einfach zu lange auf dem Prädikat „Made in Germany“ ausgeruht. Es geht mir tatsächlich darum, den Menschen Transformationen – seien es digitale, agile oder nachhaltige – nahezubringen. Damit das, worauf sie stolz sind, weiterhin einen Wert hat.
Das fängt bei den Unternehmern an und geht weiter bei Führungskräften und Mitarbeitenden. Führungskräfte in Deutschland sind laut Bertelsmann Führungskräfte-Radar hochgradig unzufrieden: 33 % haben massive Selbstzweifel, 25 % würden gerne ihre Führungsverantwortung zurückgeben. Mit was für einem Knoten im Magen gehen diese Menschen täglich zur Arbeit? Wie geht es dabei den Mitarbeitenden? Da etwas zu bewirken, das ist unser Ansporn bei CULCHA.
Sie haben es angesprochen: In Deutschland haben wir uns zu lange auf dem gefühlten Technikvorsprung ausgeruht. Sie als Digitalisierungsexpertin – wie schlecht ist Deutschland aufgestellt?
Miserabel, schlicht und ergreifend. Man sagt ja oft, „Never change a running system“, aber es rennt halt schon lange nichts mehr. Es ist immer eine Frage der Ansprüche. Man kann seine Ansprüche auch immer weiter herunterschrauben und sich mit dem Mittelmaß zufriedengeben. Aber wir hatten mal den Anspruch Weltmarktführer zu sein, so war das jedenfalls in einer noch nicht digitalisierten Wirtschaft. Unser Anspruch muss es doch sein, Weltmarktführer auch in einem digitalen Zeitalter zu sein. Um Prosperität und Arbeitsplätze zu erhalten. Da gibt es in Deutschland vielleicht ein, zwei große und ein paar kleine Unternehmen, die gegenwärtig international mithalten können.
Sie haben sehr viel erreicht in Ihrer beruflichen Laufbahn. Gibt es trotzdem noch Ziele, die Sie verfolgen?
Ich fange so langsam an, das Ganze von hinten zu denken. Ein Freund meines Schwiegervaters hat mal gesagt, dass man das Leben immer als Gesamtwerk betrachten muss. So betrachtet, möchte ich in ein paar Jahren meine Firma verkaufen und danach in Aufsichtsräten und im Coaching aktiv sein, um meine Erfahrungen weiterzugeben.
Und privat, was steht da auf der Wunschliste?
Tatsächlich möchte ich 2028 eine lange Reise mit meinen Töchtern machen. Die eine hat dann ihr Abitur und die andere ihren mittleren Schulabschluss – einfach mal sechs bis neun Monate gemeinsam unterwegs zu sein, das wäre schön.
Vita:
Prof. Dr. Katja Nettesheim studierte in München und Paris Jura und promovierte an der LMU München. Danach arbeitet sie bei den Großkanzleien Freshfields und Shearman & Sterling im internationalen Steuer- und Gesellschaftsrecht.
Für das Beratungsunternehmen Boston Consulting war sie mehrere Jahre als Unternehmensberaterin tätig, bevor sie sich in verschiedenen Funktionen beim Axel Springer Verlag u.a. mit Digitalisierungsstrategien beschäftigte.
Die Expertin für digitale Transformation, Strategisches Business Development und M&A machte sich 2008 mit ihrem Beratungsunternehmen _MEDIATE selbständig. 2019 gründete sie ihr Start-up CULCHA, das Unternehmen beim digitalen Kulturwandel hilft.
2017 wurde Nettesheim als Professorin für Digitales Medienmanagement an die Steinbeis-Hochschule Berlin berufen. Daneben ist sie Multi-Aufsichtsrätin und engagiert sich als Mentorin für Unternehmensgründer. Katja Nettesheim ist verheiratet und hat zwei Töchter.